Mehr oder weniger freiwillig war ich gestern bei einer Lesung von Arno Geiger. Zum Glück konnte ich einen Freund überreden mitzukommen um mich dort nicht ganz verloren fühlen zu müssen. Da ich aus der Erfahrung meiner Kollegen gelernt habe, bin ich schon früh da und kann mich deshalb über einen freien Sitzplatz freuen. Nur aus meinem Plan am Rand zu sitzen wird leider nichts, da alle irgendwie verfügbaren Sessel auf der Seite dazugestellt werden um dem literaturhungrigen Publikum einen Sitzplatz zu bieten. Pünktlich zu dem Zeitpunkt, als alle Sitzplätze besetzt sind und die zuletzt angekommenen Besucher sich mit der Tatsache konfrontiert sehen stehen zu müssen, beginnt das Programm.
Eine Frau gibt einen kurzen Einblick in das Schaffen Arno Geigers. 1996 hatte er seine erste Lesung beim Bachmann-Preis in Klagenfurt, neun Jahre später gewann er den Deutschen Buchpreis. Geigers Geschichten sind fast alle auf die eine oder andere Weise unerfreulich und trotzdem voller Leichtigkeit und Komik – sie sind eine amüsante Lektüre.
Mir fällt auf, dass das Publikum besseres Licht hat als der Autor, außerdem wackelt sein Tisch. Perfekte Voraussetzungen also. Ist Arno Geiger kalt? Oder ist seine Jacke, die er immer noch anhat, ein Accessoire?
Inzwischen spricht Herr Geier selbst. Wir erfahren dass „Anna nicht vergessen“ sein erster Erzählband nach 4 Romanen ist und dass seine Figuren Pechvögel sind. Seine Figuren sind Menschen, denen kleine Missgeschicke und Alltagstristesse nicht fremd sind.
Plötzlich eine Handyklingeln. Geiger „irritiert das auch ein bisschen“.
Arno Geiger erklärt dass Roman und Erzählung sehr unterschiedlich sind. Er vergleicht sie mit Oper und Sonett. In einer Erzählung wird eine Person an einem bestimmten Punkt ihres Lebens dargestellt während ein Roman alle Zeit der Welt hat und über Jahrzehnte gehen kann. Eine Erzählung kann mit wenig, einer „kargen Ausgangssituation“ arbeiten. Arno Geiger hält Erzählungen für ehrlicher, weil dort nichts zu einem „Ende“ gebracht werden muss, im Gegensatz zu einem Roman.
Dann beginnt die Lesung aus dem Erzählband „Anna nicht vergessen“ mit der Geschichte „Abschied von Berlin“. Der Protagonist lernt an seinem letzten Abend in Berlin eine Kellnerin kennen und stellt sich vor, wie es wäre mit ihr zusammen zu sein. Er hat in Berlin nie wirklich Fuß gefasst und als es an der Zeit ist zu gehen, scheint sich ein „was wäre (gewesen) wenn"-Szenario in seinem Kopf abzuspielen. Besonders sympathisch finde ich wie er die kleinen Makel einer Frau beschreibt, den Raucherhusten den er von Anfang an gemocht hat und den Spalt zwischen ihren Vorderzähnen. Ich frage mich ob Arno Geiger selbst auch jemand ist, der sich auch in die kleinen Fehler oder Makel verliebt. Wie gesagt – sehr sympathisch. Auch eine Eigenschaft die mir den Protagonisten (und damit irgendwie auch den Autor) sympathisch macht ist, dass er Listen macht. Ich selbst wüsste auch nicht wie ich manchmal ohne die guten alten Pro und Contra-Listen überleben könnte… Noch einen Pluspunkt bekommt Herr Geiger von mir für die vielen Details, ganz besonders die Beschreibung der Geräusche, wie die raschelnde Bettdecke und das Geräusch des Werkzeugs auf den Badezimmerfliesen.
Das Publikum scheint das ebenso zu sehen wie ich. Das anfangs eher verhaltene und ziemlich vereinzelte Lachen ist nicht wieder zu erkennen. Diese „vertraulichen Lügen“, die der Protagonist dem Installateur erzählt sind auch wirklich zu komisch und irgendwie warte ich darauf, dass er gleich auffliegt, was aber erstaunlicherweise nicht passiert. Auch gut, ich mag allzu vorhersehbare Texte ohnehin in den seltensten Fällen.
Mir fällt auf dass einige Leute aus dem Publikum schon vor der Lesung Bücher gekauft haben und mitlesen und das obwohl die eigene Lesegeschwindigkeit und die Vorlesegeschwindigkeit des Autors doch sicher nicht zusammenpassen – man kann einfach nicht beides gleichzeitig haben. Vielleicht geht das auch nur mir so, ich würde mich damit sicher vollkommen um das Vergnügen des Zuhörens bringen.
Herr Geiger erzählt, dass er immer versucht, die richtige Form für einen Text zu finden – die Form, die der Text verlangt. In einer seiner Erzählungen handelt es sich z.B. um Tonbandbriefe, die sich natürlich vollkommen von einem Text wie „Abschied von Berlin“ unterscheiden. Geiger interessiert auch die Frage wie weit man einen Text reduzieren kann und er immer noch eine Erzählung bleibt.
Ein anderer Text in „Anna nicht vergessen“ ist eine Art „Erzählband im Erzählband“ namens „Neuigkeiten aus Hokkaido“ in dem eine Peron aus Japan an jemanden in Europa schreibt und, wie es bereits im Titel heißt, das Neueste von der japanischen Insel berichtet. Dieser Zweite Text gefällt mir nicht so gut wie der erste, er hat für mich kaum Unterhaltungswert. Wie die anderen Leute im Publikum ihn aufnehmen ist schwer zu sagen. Es schläft noch niemand, aber Lachen ist diesmal keines zu hören. Ich bin froh dass der Text nicht allzu lang ist.
Arno Geiger erzählt wieder über sich und sein Schaffen. Er meint schlichter geworden zu sein. In seinen früheren Werken hat er sich ausgetobt, dabei aber auch das Handwerk erlernt. Seiner Meinung nach soll man Büchern nicht anmerken wie artifiziell sie sind. Die Frau, die am Anfang schon eine Einleitung zu der Lesung gab, erwähnt, dass eine Kieler Zeitung etwas über die Typen bzw. Menschen in seinen Texten geschrieben habe. Sie seien typisch österreichisch, da sie irgendwie traurig seien. Geiger meint dazu, dass er dem nicht zustimmen kann. Die Tristesse in seinen Büchern ist ja nicht so arg und diese Kieler Zeitung scheint den Humor dabei zur Gänze zu übersehen. Die Menschen in seinen Texten sind normale Menschen die versuchen ihren Platz in dieser Welt zu finden, sich mehr schlecht als recht durch das Leben schlagen. Außerdem könnten wir alle anderswo glücklicher sein, was aber nicht bedeutet, dass man mit dem Status quo unzufrieden oder gar unglücklich sein muss.
Arno Geiger wollte schon einen Erzählband schreiben, seit er Anfang 20 ist. Wir erfahren, dass er erst seit etwa drei Jahren vom Schreiben leben kann. Ganz anders als erwartet fühlte er sich angeblich nach dem Erfolg seines letzten Buches nicht unter Druck gesetzt, einen ebenso großen Erfolg produzieren zu müssen. Davor stand er unter großem existenziellen Druck, er kam nur mit Stipendien über die Runden – sie haben ihm das Schreiben ermöglicht. Er meint dass die Investition sich für die Republik Österreich gelohnt hat, da er jetzt, als Steuerzahler, mehr zurückzahlt als er bekommen hat.
Geiger legt mehr Wert auf Qualität als auf Quantität, mich wundert es, dass das überhaupt erwähnt werden muss. An „Es geht uns gut“ hat er vier Jahre gearbeitet. Geiger erklärt, dass er die Idee für eine Geschichte lange mit sich herumträgt und sich alles genau überlegt, bis er sie für gut befindet und auch anfängt zu schreiben. Das kann sogar ein halbes Jahr dauern. Bei seinem Erzählband hat das besonders lange gedauert, weil es sehr anstrengend ist sich in jede Figur neu einzufühlen. Und ja, jetzt ist er sehr glücklich und hat Freude mit dem Buch.
Die Lesung ist zu Ende, alle Fragen wurden beantwortet und ich bin froh, dass es nicht ewig gedauert hat. Eigentlich bin ich von der Veranstaltung positiv überrascht. Den anderen Leuten im Publikum scheint es auch gefallen zu haben. Als ich gehe, werden noch fleißig Bücher gekauft, auch ich habe mir "Anna nicht vergessen" gegönnt :)
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